Premierenkritik AN/AZ-Kultur (09. August 2015)

Spiel auf zwei Ebenen: Die "Ratten" im Aachener Theater K

Tragödie von Gerhard Hauptmann im Soerser Tuchwerk
 
Foto: Ludwig Moll
Der Kampf ums Kind: Jochen Deuticke (links) und Laura Thomas in Hauptmanns „Ratten“ im Aachener Theater K
 
  Oben, auf dem "verseuchten" Dachboden, sitzt der verkrachte und abgehalfterte Theaterdirektor Hassenreuter und schwadroniert über Gott, die Welt und die hohe Kunst des idealistischen Theaters. Unten, in der "Wanzenburg", auf dem rauen Boden der Tatsachen, kämpfen zwei Frauen verzweifelt um ein Kind.
 
Oben und unten, das Schöne und das Hässliche, Expressionismus und Naturalismus: Das Aachener Theater K hat Gerhart Hauptmanns 1911 uraufgeführte Tragikomödie geschickt und radikal komprimiert und so auf zwei Ebenen auf den Punkt gebracht.
 
Die Kooperation mit dem Kölner Ensemble L3 verströmt nicht zuletzt durch das Ambiente des alten Tuchwerks in der Aachener Soers echtes Berliner Hauptstadtflair. Die große Halle bietet die perfekte Bühne für das Stück, das die Tragik eines naturalistischen Dramas mit einer überhöhten, komischen Parallelhandlung verbindet. Dafür steht Hassenreuter, den Annette Schmidt mit Bart, wilder Mähne und dunklem Anzug fast etwas entrückt anlegt.
 
Unten im gleichen Haus entfaltet sich das proletarische Drama um das junge Dienstmädchen Pauline Piperkarcka, die Laura Thomas in ihrer Verzweiflung und ihrer Liebe zum eben geborenen Kind überwältigend und herzzerreißend anlegt. Der „Deal“ mit Frau John, die bereits ein Baby verloren hat, kann nicht gut gehen. Facettenreich verkörpert Lisa Bräuniger diese Frau, die Paulines Kind ("für 123 Mark") abkauft.
 
Und dann gibt es da noch Frau Knobbe, eine magere Süchtige im roten Kleid, unheilvoll verkörpert von Jochen Deuticke, und den Schubiak Bruno, den Bruder der Frau John, der von ihr für den Kampf um das Kind instrumentalisiert wird. Ein rechter Tunichtgut, dem man nicht trauen kann. Lukas Schmitt gibt ihn ebenso raffiniert wie gestört und gefährlich. Eine schreckliche Tat scheint unausweichlich.
 
Ganz großer Applaus für diese aufrüttelnde Gratwanderung zwischen naturalistischen und expressionistischen Motiven in der rauen Fabrikhalle – das Abbild einer Gesellschaft, in der Menschen zu Ratten werden, weil die schiere Not sie dazu bringt.
Grit Schorn